Um die Praxis der römischen Religion zu verstehen, sollte man alle modernen Vorstellungen von Frömmigkeit vergessen.
Die Römer behaupteten von sich selbst, die frömmsten Menschen des Erdreichs zu sein und es gibt sogar griechischen Autoren, die ihnen dies bescheinigen. Religiosität war bei den Römern ein Zustand. Niemand musste an eine Gottheit „glauben“, kein Städter hat jemals die Religion aufgrund einer persönlichen Entscheidung „gewählt“. Als römischer Bürger war man automatisch Mitglied der römischen Religion mit allen Rechten und Pflichten.
Das lateinische Wort PIETAS (Frömmigkeit) bedeutete Gehorsam gegenüber den Götter in der gleichen Weise, wie man sie dem menschlichen Vater schuldete. Und so, wie Kinder das Eigentum ihres Vaters waren, so waren die Menschen Eigentum der Götter.
Den Begriff RELIGIO erklärt Cicero in seiner o. a. Schrift als "Zustand des permanenten Gewahrseins" dieser Verpflichtung. Gleichzeitig stellt er die Besonderheit der römischen Gottheiten dar:
Römische Gottheiten sind allgegenwärtige körperlose Kräfte, deren Anwesenheit sich durch ihre Handlungen erkennen lässt: Jupiter bringt Regen, Sturm und Blitze, Neptun macht Überschwemmungen und Erdbeben, Salacia schickt reiche Freier, Verticordia lässt Bräute ihren Ehemann lieben.
Ihren Willen drücken sie durch Vorzeichen (Omina, Einzahl: Omen) aus. Dazu zählen:
- Vogelflug,
- Blitze,
- Zustand der Innereien eines Opfertiers,
- das Picken von Hühnern,
- und viele mehr.
Vorzeichen (Auspizien) waren allerdings nur dann zu beachten, wenn sie von dem betroffenen Menschen auch gesehen wurden. Cicero, ausgebildeter Augur (Zeichendeuter) schreibt dazu in seiner Abhandlung „Über die Weissagung“:
Nicht nur die geschlossene Sänfte, die das Sehen eines Omens verhinderte, war eine Möglichkeit, den göttlichen Willen zu "manipulieren". Wenn Hühner durch Picken ein gutes Vorzeichen geben sollten, ließ man sie vorher ein paar Tage hungern.Und jener eben [Marcus Marcellus, fünfmaliger Konsul und zugleich ausgezeichneter Feldherr]
sagte, wenn er eine Unternehmung ausführen wolle, so pflege er, um nicht durch die
Auspizien daran gehindert zu werden, in einer bedeckten Sänfte zu reisen.
Marcus Tullius Cicero, De Divinatione, 2,77, Übersetzung R. Kühner
Gleichzeitig grenzt Cicero seine religiöse Aufgabe als Augur von bloßer Zeichendeuterei und astrologischer Zukunftsschau ab: Die Tätigkeit eines Auguren bestehe darin, den Willen der Götter zu einer aktuellen Handlung zu klären, nicht jedoch eine noch unbestimmte Zukunft zu erkunden.